Wer im österreichischen Bundesasylamt bei einem Automaten nach hilfreichen Informationen sucht, wird mit Klängen des Donauwalzers begrüßt. „Denken Sie daran, den Schlepperorganisationen geht es um Ihr Geld, nicht um Sie als Mensch.“ – so lautet dann allen Ernstes eine erste Empfehlung. Die Szene aus Nina Kusturicas „Little Alien“ verdeutlicht nicht nur, dass die Realität an Aberwitz kaum zu überbieten ist. In seiner unverbindlichen Anonymität zeigt der Automat auch genau die Rückseite dieses Dokumentarfilms auf. Dem Zugriff des Staates, der Flüchtlinge nur zu verwalten weiß, setzt er einen emphatischen Blick auf minderjährige Asylsuchende entgegen; einen Blick, der um die Besonderheit jedes Menschen weiß, ohne sich auf eine Politik der Anteilnahme zu beschränken.

Kusturica arbeitet, wenn man so will, in einem orthodoxen Sinne dokumentarisch: Der Flüchtling wird bei ihr zu keiner Figur, mit der sich die eigene humanistische Gesinnung ausstellen lässt. Er bleibt ein „nackter Mensch“, der unter den Augen eines geduldigen Beobachters ein konkretes Umfeld, seine Anschaulichkeit zurück erhält – so prekär diese auch sein mögen.

In der Umsetzung bedeutet dies vor allem ein umsichtiges Begleiten, und zwar weniger durch die Stationen einer Flucht als durch jene Zone, die zwischen dem Antrag und der (Nicht-)Gewährung des Asyls liegt. Eine Zone der Unbestimmtheit, in der jeder Status, jedes Gefühl des Ankommens und – vor allem – jede Sicherheit nur vorübergehend ist. Asha und Nura, zwei junge Frauen aus Somalia, sowie Alem und Jawid, zwei Jugendliche aus Afghanistan, bilden die beiden zentralen Paare, um die Kusturica eine Form von Normalität im Ausnahmezustand festhält.

In erhöhtem Tempo reihen sich die Beobachtungen zum Bild einer Passage, bei der unklar bleibt, wohin sie führt. In Gesprächen mit juristischen Beratern wird vor allem die Uneinschätzbarkeit der laufenden Verfahren transparent – eine Desorientierung, die der Film eher unterstreichen als überwinden will. „Little Alien“ kann seine Protagonisten auch immer nur bis zu jenen Türen von Institutionen begleiten, hinter denen dann über sie entschieden wird. Die Macht und Gewalt der Bürokratie liegen außerhalb des Films: In den Ämtern wurde Kusturica das Drehen untersagt.

Die Leerstelle wird mit anderem Material gefüllt, das umso eindrücklicher ist, als es keine konventionellen Opfer-Schemata bedient. Mit Asha und Nura, die in Traiskirchen eine vorläufige Bleibe finden, wird man zum Zeugen einer „verkehrten“ Realität: Perspektiven werden verschoben oder erweitert, Stereotype durch Anschauungsmaterial löchrig gemacht. Ein Beispiel: Am Bahnhof werden die Mädchen von einem Passanten schikaniert; sie selbst verstehen kein Wort, aber ihre Begleiterin erklärt ihnen, dass dieser Mann seine sozialen Ängste über Ausländerhass ausdrückt. Die Szene wirkt in ihrer Verdichtung geradezu lehrstückhaft, da sie Realität und Analyse der Realität in einem ist.

Umgekehrt sind da jene flüchtigen, aus einem Lebens-zusammenhang erhaschten Momente, in denen die Protagonisten zu Subjekten mit unverwechselbaren Eigenschaften reifen: Im geselligen Miteinander werden Liebes- und Zukunftshoffnungen manifest, biografische Hintergründe treten zutage – etwas, das Kusturica nie forciert ausbreitet, weil es eben nicht vorrangig ist; eine Kleidersammelstelle, in der sich Asha und Nura frei bedienen können, zeigt kurz auch ihre stillen Wünsche anhand von Vintage-Objekten auf; und daneben ist für die Hilflosigkeit manch gut gemeinten Vermittlungsversuchs Platz, wenn Alem und Jawid in einer österreichischen Schulklasse Fragen beantworten, was die gesellschaftliche Kluft nur noch deutlicher zum Vorschein bringt.

Eingegrenzt werden die beiden Haupterzählstränge in „Little Alien“ durch schlaglichtartige Momentaufnahmen anderer flüchtender Jugendlicher, in der spanischen Exklave Ceuta in Nordafrika, am Hafen von Patras in Griechenland oder im marokkanischen Tanger. Diese „Außenstellen“ stehen stellvertretend für eine europaweite Politik der Abschottung, die schon an einem Kontrollbild am Anfang des Films manifest wird, auf dem Flüchtlinge nur als Wärmepunkte einer Infrarotkamera aufscheinen. Diesem kalten Auge, das keine Unterschiede macht, setzt der Film den Menschen entgegen, bei dem der Unterschied alles ist.


(Dominik Kamalzadeh)


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