Die Idee zu diesem Film entstand als ich vor 15 Jahren – als Kriegsflüchtling – im Alter von 17 Jahren in Wien ankam. Diese andere Perspektive, das Aufeinanderprallen der Welten und Erwartungen, dieses parallele Leben mehrerer Realitäten begleiten mich bis heute. Ich fühle mich privilegiert, mit meinen jetzigen, filmischen Mitteln diesen Geschichten einen Raum und eine Zeit geben zu können.
Bereits in der Recherchephase des Films gab es eine Director’s Note, mit all den Absichten, Ideen und Vorstellungen, mit denen die Dreharbeiten begonnen hatten. Nach und nach aber, während der 80 Drehtage und über 15.000 Kilometern Weges in fast zwei Jahren Drehzeit, verwandelte sich das theoretische Konzept in eine intensive, lebensechte Erfahrung, in ein komplettes Einsteigen in die Welt der jungen Menschen, die der Film dokumentiert.
Die größte Aufgabe bestand darin, diese offene Lebendigkeit, die Absurdität in den alltäglichen Begegnungen, die Tränen aber auch Freuden so unkommentiert wie möglich im Film weiterzugeben. Die immer wiederkehrende Frage am Ende des Drehtages: „Hat das gefilmte Material auch das gesehen, was wir gesehen haben? Kann man das alles weitergeben, wiedergeben? Was sieht die Kamera von all dem? Sind der Schock, die Entrüstung und das daraus folgende Fazit in einem Dokumentarfilm ohne Kommentar überhaupt darstellbar?“ Klar war: Es wird szenisch erzählt; es werden keine Interviews vorkommen; die Gespräche werden nebenbei passieren; wir werden sehen, wie die Personen miteinander kommunizieren und in welchen Verhältnissen sie zueinander stehen.
Dies war nur durch eine lange Vorbereitungszeit und kontinuierlichen Kontakt möglich, bei dem ein vertrautes Verhältnis zu den ProtagonistInnen entstanden ist, sodass sie sich, wenn gefilmt wurde, entspannt und wie im Alltag verhalten konnten. Der Film sollte ein Angebot an die ZuschauerInnn werden, ein Angebot und eine Einladung, die wir – das Team – stellvertretend für sie, eingehen durften.
Aus dem gefilmten Material von über 120 Stunden, in den durch den intensiven Schnittprozess herausgearbeiteten 94 Minuten, kann man sich selbst ein Ganzes zu Ende denken. Die Absicht, zu erklären, zu erläutern und kluge Gedanken des allwissenden Films zum Thema wiederzugeben, war nie da. Das Ziel war, durch die Assoziationen einen Eindruck vom Ganzen zu bekommen, der viel klarer und tiefer ist, als es ein „kommentierter“ und außen stehender je sein könnte.
So war es möglich Raum zu schaffen für die Energie aber auch Frechheit der Jugend, die in den Details immer sprühen und überraschen – sogar in den schwierigsten Situationen, in denen es eigentlich nur um das pure Überleben geht.
Die besondere Herausforderung lag darin, einen vertretbaren Weg zu finden, Menschen zu filmen, die sich in einem Dauer-Ausnahmezustand befinden. Menschen, denen die Notwendigkeiten der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts verwehrt bleiben. An wahrhaftigen Situationen teilzunehmen, aber dabei nicht durch ein Schlüsselloch zu blicken, sondern im Sinne der Personen, im Sinne des Films die Bilder entstehen zu lassen. Die Aufgabe war schließlich eine Suche, bei der es notwendig war immer neuen Situationen und Überraschungen Platz und Zeit einräumen zu können.
Die Arbeit an diesem Film hatte im Laufe der Zeit immer weniger mit den klassischen Regeln des Filmemachens zu tun, sondern mit dem Leben an sich und umso mehr mit der Frage, was Film bewirken kann.
Und die Antwort kam: Kommunizieren. Der Film soll kommunizieren.
Zur Verhinderung
Was Sie in diesem Film nicht sehen werden
Zwei Themen kehrten in der Arbeit an Little Alien immer wieder: Einerseits der Kampf um Drehgenehmigungen und die Möglichkeit, diesen Film überhaupt drehen zu können, und andererseits die Frage nach dem Alter der Flüchtlinge. Beides waren Zweifel, die von außen in den Film getragen wurden. Und beide verdeutlichen, dass bereits die Idee, von dem zu berichten, was gerne ignoriert oder bedeckt gehalten wird, eine Provokation darstellt, die auch vor jenen nicht Halt macht, die meinen politisch korrekt zu handeln.
Ein kleiner Bericht:
Nach tagelangen Gesprächen und Verhandlungen bekommen wir Drehgenehmigungen, die mehr Verbote als Genehmigungen beinhalten. An öffentlichen Orten, an denen man generell keine Drehgenehmigung braucht, werden wir von der Exekutive durch ständige Kontrollen unter verschiedenstem Vorwand am Dreh gestört. Wir begreifen rasch, dass wir mit unserer Kamera, mit dem „roten Licht“, Aufmerksamkeit auf etwas lenken, das versteckt bleiben soll. Sätze, wie „Es wird bei diesem Thema viel missinterpretiert, wir müssen aufpassen, wir wollen nur das Beste für die Jugendlichen“, werden von „Zuständigen“ gebetsmühlenartig wiederholt.
Doch auch die Szenen wiederholen sich: Wir fragen die Jugendlichen, ob wir dies und das mit ihnen filmen dürfen. Sie meinen: „Ja sicher, solange die Frisur passt“. Doch wir filmen und arbeiten unter schweren Restriktionen, die sowohl die Jugendlichen als auch uns betreffen. Der Film wird eingegrenzt und begrenzt, ein (Grenz)Zaun aus Regeln wird um uns gebaut. So muss sich der Film jeden Tag aufs Neue in einem anderen Versteck wieder finden. Von den BeamtInnen der zuständigen Ministerien bekommen wir erklärt, dass wir wahrscheinlich gar keine Jugendlichen in unserem Film haben, weil sie ihr Alter sicher nach unten manipuliert hätten, um im Asylverfahren davon zu profitieren.
Wir denken kurz darüber nach: Wie sollen wir bei der Auswahl der Jugendlichen vorgehen, wenn wir nicht wissen, wie alt sie sind? Die Behörde schickt sie zu einem Arzt, der das nach einem zwanzigminütigen Gespräch herausfinden soll, und zur Magnetresonanz.
Im Laufe der Recherche treffen wir erfahrene, wissenschaftlich orientierte ÄrztInnen die uns erklären, dass man nicht einmal mit einem genetischen Test feststellen könne, wie alt jemand exakt ist. Im jugendlichen Alter sind Schwankungen bis zu zwei Jahren möglich.
So sind in unserem Film Jugendliche, die jünger oder älter aussehen, als sie wirklich sind. Die Frage nach dem Alter wird uns auch nach Fertigstellung von Little Alien gestellt. Weil sich das Auge keine Kinder und Teenager in solchen Situation vorstellen kann.
Vieles kann ihnen von „außen“ drübergestülpt werden, aber das Aussehen, zu unsrer Freude, nicht.
Zum Thema
Die jungen Mädchen und Burschen aus der Mitte Afrikas und dem fernen Zentralasien flüchten von ihrem Zuhause nach Europa, verlockt von seinem Glitzer, hungrig nach einem sicheren Platz zum (Über)Leben.
Einst war das alles ganz anders ...
Der Befehlshaber musste sich als Stier maskieren, das Mädchen – die phönizische Königstochter – schnappen und mit ihr auf dem Rücken durch das halbe Mittelmeer schwimmen ... Schlussendlich verführte er sie. So kam dieses Mädchen Europa in unsere Region und gab ihren Namen „der besten Welt aller Welten“.
Heute werden keine jungen Fremden mehr nach Europa entführt. Sie werden auch nicht eingeladen. Die jungen Fremden werden sogar daran gehindert, sich dem Olymp zu nähern. Europa engagiert Arbeitskräfte, um seine Grenzen, seinen Frieden und seine Standards zu schützen. Die BürgerInnen Europas leben in der Angst, dass ihnen die Fremden ihr Vermögen, ihre Sicherheit und die traditionellen Werte wegnehmen könnten. Ihre Angst entspricht der Propaganda ihrer politischen Führer. Little Aliens schaffen es dennoch über die Mauer, durch die Umzäunung; sie akzeptieren das abstrakte Spiel der Paragraphen und den Kampf gegen das Warten.
Die Gesetze Europas bedeuten für sie, dass es vollkommen legal ist:
- geschlagen zu werden
- ins Gefängnis zu kommen
- nicht Arbeiten zu dürfen
- keine Schulen besuchen zu dürfen
- keine gleichen Rechte zu haben
- keinen Platz zum (Über)Leben zu bekommen
Diese jungen Menschen haben eine ganze Welt hinter sich gelassen. Sie riskierten ihr Leben und ihre Gesundheit – hier angekommen, müssen sie noch einmal das Nicht-Ertragbare aushalten.
Wir waren Zeugen, wie das System diese fremden und meistens auch tief traumatisierten Jugendlichen selbst durch Paragraphen und geschickte rechtliche Manipulationen nicht daran hindern kann, ihr Leben zu leben.
Wir entdeckten, wie sie trotzdem lachen, sich sicher bewegen, mit Freunden, die sie auf dem Weg der Seide, des Tees und des Kaffees gewonnen haben; wie sie die Jugend feiern. Diese Freundschaften sind eine Kostbarkeit, sie sind Familienersatz, Freude und Spiel ...
Und sie laden uns ein, stellvertretend: Bitte, treten Sie herein, nehmen Sie Platz, verbringen Sie eineinhalb Stunden mit uns, Nura, Ahmed, Asha, Jawid, Achmad und Alem.
Nina Kusturica, Wien, März 2009